
Über den Terroranschlag auf die israelische Mannschaft bei den Olympischen Spielen in München sind immer noch Legenden in Umlauf. Eine findet sich in der Internet-Enzyklopädie Wikipedia, im Artikel über Anneliese Graes, die 1993 in Bottrop verstorbene Beamtin der nordrhein-westfälischen Kriminalpolizei, die vor der Tür des von den Geiselnehmern okkupierten Hauses im Olympischen Dorf mit deren Anführer verhandelte: „Aufgrund ihrer Englischkenntnisse wurde sie von Essen nach München abgeordnet, um mit den arabischen Terroristen zu sprechen.“ Wie soll man sich das vorstellen? Wurde sie am Morgen des 5. September 1972 nach München geflogen?
Da sie um 7 Uhr 50 ihre Position als Kontaktperson an der Connollystraße 31 einnahm, kann es so nicht gewesen sein. Anneliese Gries war schon vor Beginn der Spiele mit Kollegen aus anderen Landespolizeien zur Amtshilfe im Ordnungsdienst des Olympischen Dorfes eingeteilt worden. Ganz so schlecht vorbereitet auf das Weltereignis waren die deutschen Behörden dann doch nicht, dass eine des Englischen mächtige Polizistin im Notfall erst in 500 Kilometer Entfernung vom Olympiastadion hätte aufgefunden werden können.
Sieg über die Nachrichtenredaktion
Im Kinofilm „September 5“, der die Geschichte des Schreckenstages aus der Perspektive des vor Ort installierten Sportreporterteams des amerikanischen Fernsehsenders ABC erzählt, spielt die Dolmetscherin Marianne Gebhardt (Leonie Benesch) dieselbe Rolle wie die Essener Kriminalhauptmeisterin der Wikipedia-Legende. Die ABC-Herren, in ihrer Sparte wohl Mannschaftsweltmeister, obwohl sie ihre Zuständigkeit für die Live-Berichterstattung über die Erpressungstat der als „Schwarzer September“ kommunizierenden Palästinenser gegen die Kollegen der Nachrichtenredaktion im himmelweit entfernten New York erst erkämpfen müssen, brauchen Marianne als Mädchen für alles, vor allem für die kulturelle Vermittlung zwischen der Studiohöhle, in der es den ganzen Tag dunkel bleibt, und der deutschen Außenwelt. Ohne Marianne könnten die amerikanischen Journalisten die deutschen Radionachrichten und Regierungssprecherworte nicht verstehen.

Glücklicherweise hat die patente junge Frau auch Freunde beim Bayerischen Rundfunk und bei der Polizei, sodass sie den Polizeifunk abhören kann. Der Film, für den angeblich so ungefähr sämtliche in Fernsehmuseen erhaltenen Wählscheibentelefone für Ligakonferenzschaltungen aus der Ära von Ernst Huberty in die Bavaria-Studios verfrachtet wurden, will auch ein stilles Lied auf die Wunder der analogen Technik sein. Am Anfang wird Marianne zum Kaffeeholen geschickt, am Ende nach Fürstenfeldbruck, von wo sie aus einer Telefonzelle am Rand des Flughafengeländes berichtet, was sie vom katastrophalen Ausgang der Rettungsaktion hört.
Nach Angaben des Regisseurs Tim Fehlbaum, der mit Moritz Binder und Alex David auch das Drehbuch geschrieben hat, ist Marianne Gebhardt die einzige fiktive Figur in der Geschichte, die auf mündlichen Auskünften des Studioleiters Geoffrey Mason (im Film gespielt von John Magaro) beruht. Das wirft die Frage auf, wer in Wirklichkeit die im Film von der langmütigen Kurzhaarheldin erbrachten Dienstleistungen verrichtete. Bekamen die amerikanischen Journalisten vom deutschen Radio und Fernsehen nur bruchstückhaft etwas mit, oder verstanden einzelne von ihnen vielleicht doch Deutsch?
Die Produzenten als Rezipienten
Erfundene oder synthetisierte Charaktere, die dem verbürgten Personal hinzugefügt werden, sind ein bewährtes Mittel aus dem Technikkasten der historischen Fiktion. Sie können sich der Orientierung des Publikums widmen, während die historischen Personen tun, was über sie in den Geschichtsbüchern steht. Übersetzerfiguren sind typisch, auch Vermittler zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Marianne ist Botschafterin der besseren deutschen Zukunft, die 1972 schon begonnen hat. Die Nachfrage ihrer Chefs, was ihre Familie im Krieg gemacht hat, ist erledigt, als sie mit dem Ernst einer Einserabiturientin die simple Wahrheit ausspricht, dass sie mit ihren Eltern nicht identisch ist. Vielleicht heißt Marianne nur zufällig mit Nachnamen so wie das wichtigste Handbuch der deutschen Geschichte, dessen 9. überarbeitete Auflage 1972 gerade im Erscheinen begriffen war.
Da die amerikanischen Reporter, die man sich naturgemäß abgebrüht vorstellt, das Terrorgeschehen als Bericht aus Mariannes Mund erreicht, erleben wir die Weltnachrichtenproduzenten als Rezipienten. Die medienethische Debatte, die sie im Ernstfall durchspielen, ist philosophisch banal, weil es in der Frage, was man wem wann wo zeigen soll, immer zwei Seiten gibt, von denen hier jede ihren honorigen, als Person uninteressanten Fürsprecher hat. Zum ersten Mal übertrug das Fernsehen einen Terrorakt live, die Entscheidungen der ABC-Leute verdienen Nachsicht, sie wussten ja nicht, wie es ausgeht.