Simone Sommerland heizt Konzertsäle mit Ohrwürmern aus dem Kita-Alltag auf. Wer ist die Frau, die mit „Aramsamsam“ und „Zeigt her eure Füße“ länger in den Charts war als ABBA? Eine Begegnung mit der guten Fee der Kinderlieder.
Sonntagnachmittag Anfang Mai, bestes Spielplatzwetter, Zoo wäre auch nicht schlecht. Doch hier, auf einem öden Parkplatz im Schatten des Leverkusener Fußballstadions, deutet nichts auf ein Ausflugsziel, das Kinder sich wünschen. Trotzdem fährt eine Familie nach der anderen vor. Manche haben mehr als eine Stunde Weg hinter sich, man sieht es an den Autokennzeichen: Mönchengladbach, Olpe, Krefeld.
Kleinkinder werden aus dem Schlaf gerissen, als die Eltern sie aus den Sitzen heben. Dann geht es in die Warteschlange. Rund 2000 Menschen wollen in die Ostermann-Arena. Drin geht das Warten weiter. Fünfjährige, die am Waffel-Stand nörgeln. Vierjährige, die etwas trinken wollen. Dreijährige, die auf den Sitzen herumklettern. Zweijährige, die sich zwischen den Beinen von vielen Hundert Menschen verirren. Eltern, die Routinefragen stellen: „Musst du auf die Toilette?“ – „Ja. Muss aber Kacka.“
Fünf Minuten nach vier gehen endlich die Scheinwerfer an und erhellen die Bühne, die mit überdimensionalen Pappmaschee-Sonnenblumen und Schmetterling-Ballons dekoriert ist. Im Hopserlauf tritt eine Frau mit blonden Locken auf. Sie trägt einen lindgrünen Hosenanzug. Die Erwachsenen sollen sitzen bleiben, sagt sie, die Kinder dürfen aufstehen und sich frei bewegen. Danach setzt Musik vom Band ein, die Frau fängt an zu singen: „Wir wollen spielen, uns bewegen, wollen hüpfen, springen, drehen …“ Die Kinder singen, hüpfen, springen, drehen sich. So ähnlich muss man sich wohl die Sache mit dem Rattenfänger von Hameln vorstellen.
Vor 15 Jahren erschien die erste CD
Simone Sommerland ist auf Tour. Vor Leverkusen war schon Düsseldorf dran. 40 Stationen kreuz und quer durch Deutschland. Sie tritt in Hallen auf, die mehrere Tausend Besucher fassen. Immer am Wochenende, Beginn meist um 16 Uhr, nach dem Mittagsschlaf ihrer Fans, die sie vor allem von CDs oder aus YouTube-Videos kennen. Sommerland singt, was jedem geläufig ist, der je eine Krabbelgruppe besucht hat: „Aramsamsam“, „Zeigt her eure Füße“, „Fünf kleine Fische“, „Bi-Ba-Butzemann“. Vor drei Jahren experimentierte sie erstmals mit Kinderliedern auf Live-Konzerten. Das Konzept funktionierte, die Hallen waren bald überbucht.
Auch an diesem Nachmittag in Leverkusen entlädt sich, was sich in den Kinderzimmern und Kitas der Republik aufgebaut und aufgestaut hat. Die Medien bezeichnen sie als die Helene Fischer der Stuhlkreis-Hits. Einer davon geht so: „Wenn du fröhlich bist, dann klatsche in die Hand.“ Sommerland und die Kinder singen, klatschen und stampfen. Als es im Text heißt: „Wenn du fröhlich bist, dann rufe laut hurra!“, schreien sie so laut, dass die Fußballfans in der benachbarten BayArena blass werden könnten. Eltern strahlen. Nie klang das Geschrei ihrer Kinder schöner. Alle Mühsal der Anfahrt und des Wartens ist vergessen.
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Vor 15 Jahren erschien beim Berliner Musiklabel Lamp & Leute die CD: „Die 30 besten Spiel- und Bewegungslieder“. Sie hielt sich 533 Wochen lang in den deutschen Albumcharts, keine andere CD hat das bisher geschafft. Selbst ABBA nicht. Auf dem Cover dieser CD steht: „Simone Sommerland, Karsten Glück und die Kita-Frösche“. Hinter den Künstlernamen steht das Ehepaar Simone und Karsten Stiers aus dem Ruhrgebiet. Die älteste Tochter Paula, damals zehn Jahre alt, wirkte ebenfalls mit. Aber für die Interpreten interessierte sich zunächst niemand.
Der CD-Dauerbrenner befeuerte den Ehrgeiz der Labelmacher, im Vierteljahrestakt veröffentlichten sie weitere Ohrwürmer aus dem Kinderliederfundus: die besten Weihnachtslieder, die besten Frühlingslieder, die besten Schlaflieder, die besten Partylieder und so weiter und so fort. Seit 2010 sind mehr als 60 solcher Alben erschienen, sie brachten weit über 600.000 Verkäufe ein. In diesem Jahr ist ihr erstes Kinderbuch mit dem dazu passenden Song erschienen: „Mach mit, Mausi Maus“.
Ein Vater, der mit seiner dreijährigen Tochter Sveja nach Leverkusen gekommen ist, sagt, er habe noch nie eine CD von Simone Sommerland in der Hand gehabt. Woher seine Tochter sie kennt? „YouTube.“ Drei Millionen Abonnenten und mehr als 3,6 Milliarden Video-Aufrufe verzeichnet ihr Kanal. Erst mit diesen Filmchen wurde die reale Person sichtbar, die sich hinter dem märchenhaften Namen verbarg. Simone Sommerland alias Simone Stiers trat aus dem Schattenreich der Tonstudios ins Licht der Öffentlichkeit. Es ist wie die Geschichte der guten Fee, die man lange vom Hörensagen kannte – bevor sie eines Tages, endlich, leibhaftig erscheint.
Beim Interviewtermin am Tag nach dem Konzert wirkt sie weniger feenhaft, eher burschikos. Sie trägt Jeans, Jeansjacke und Sneaker. Treffpunkt ist Volmarstein, ein 12.000-Einwohner-Ort, der zur Stadt Wetter an der Ruhr in Nordrhein-Westfalen gehört. Hier ist sie aufgewachsen, hier lebt sie bis heute. Sie ist 49 Jahre alt, zwei ihrer drei Kinder sind bereits erwachsen, die jüngste Tochter ist 14, reist bei den Konzerten mit und hilft Backstage. Von ihrem Mann – „Karsten Glück“ – ist sie seit drei Jahren getrennt.
Man spaziert keine Viertelstunde mit ihr durch Volmarstein, bis sie angesprochen wird. Nicht weil sie die bekannte Kinderlieder-Interpretin ist, sondern die Simone, mit der man mal eben einen kleinen Schwatz machen kann. „Du bist ein Armleuchter!“, ruft sie einem Mann zu, der gerade versucht, eine Stehlampe in seinem Auto zu verstauen. Er lacht. „Die Simone darf so etwas sagen.“
Bereits in der Grundschule, erzählt sie, sei aufgefallen, dass sie, die Jüngste von sechs Geschwistern, gut singen kann. Früh habe für sie festgestanden, dass sie Sängerin werden wollte – „ohne zu wissen, was genau zum Beruf einer Sängerin gehört“. Später nahm sie klassischen Gesangsunterricht, nach der Schule studierte sie eine Zeit lang Jazz und Popularmusik in Hamburg. Einen Abschluss machte sie nie. Stattdessen versuchte sie, sich mit Musik eine Existenz aufzubauen. „Man hat mir oft prophezeit, dass das, was ich vorhatte, brotlose Kunst sei“, sagt sie. „Also habe ich viel dafür getan, um das zu widerlegen.“ In Show- und Partybands. In den Neunzigern war sie als Background-Sängerin mit Blümchen auf Tour. Sie gab Gesangsunterricht, musikalische Früherziehung, wo sie dieselben Lieder sang, mit denen sie jetzt ihre Konzerte bestreitet. Und sie verdiente Geld mit Studio-Aufnahmen: Bereits mit 17 war sie bei der Produktion der Schlumpflied-CDs dabei. Ihre Stimme wurde zwar bis zur Unkenntlichkeit hochgedreht. Aber der Job brachte Geld und Erfahrung – und „meine erste goldene Schallplatte“.
Wie viele Gold- und Platinplatten seitdem hinzugekommen sind? Sie weiß es nicht. Ein paar davon kann sie zeigen – gerahmt hängen sie an den Wänden ihrer eigenen Musikschule, einem unscheinbaren Altbau, an dem man beim Rundgang durch Volmarstein natürlich auch vorbeikommt. Wann sie die Schule gegründet hat? „Vor 15 Jahren vielleicht? Ich bin nicht so gut in Zahlen.“ Jedenfalls sei die Schule ein wichtiger Baustein ihrer Existenz. Noch bis vor zwei Jahren hat sie dort selbst unterrichtet. Ein paar Schülerinnen haben die Musik zum Beruf gemacht, eine könne ebenfalls schon Chartplatzierungen vorweisen, sagt sie.
Als Kind musste sie den Eltern beim Gemüseanbau helfen
Stolz ist sie auch darauf, wie sie die Schule und ihre Schüler durch die Corona-Zeit geführt hat. „Wir haben früh überlegt, wie wir Präsenzunterricht anbieten können“, sagt sie. Für den Klavierraum besorgte sie ein zweites Instrument, sodass Lehrer und Schüler weit genug auseinander saßen – und durch aufgehängte Plexiglas-Platten getrennt werden konnten. Die Scheiben stehen heute noch in den Räumen.
Zum Abschluss des Gesprächs will Simone Stiers noch zur Terrasse der Burg Volmarstein – „wegen des Ausblicks“, sagt sie. Der reicht weit über die Ruhr und die Äcker in der Flussaue. „Dort unten haben meine Eltern Gemüse angebaut“, erzählt sie. „Nebenerwerbslandwirtschaft“. Der Vater arbeitete außerdem noch in der Fabrik. Und die Kinder hätten selbstverständlich bei der Feldarbeit helfen müssen. „Große Maschinen hatten wir nicht.“ Eines jedenfalls habe sie damals auf den Äckern der Eltern gelernt: „Du musst etwas pflanzen und dich kümmern – egal, ob es regnet, schneit oder stürmt.“
Dann führt sie die Bewegungen vor, mit denen der Vater den Spaten in die Erde stach, damit die Kinder die Pflänzchen setzen konnten. Eine rhythmische Abfolge von Schritten und weit ausholenden Armbewegungen. Es sieht so aus, als wollte sie mitten auf der Volmarsteiner Burgterrasse einen Worksong performen, wie man ihn von den Baumwoll-Plantagen der Südstaaten kennt. Oder eines ihrer Kinder-Bewegungslieder.
Der Erfolg ändert nichts an ihrer Grundhaltung
Ist der jetzige Erfolg als Simone Sommerland also die große Ernte, die sie nach Jahren des Ackerns endlich einfahren kann? Simone Stiers schüttelt den Kopf. Sie kann mit solchen Erfolgsfragen nichts anfangen. Das klingt für sie zu sehr nach Berechnung. „Als ich zum ersten Mal ,Fünf kleine Fische‘ aufgenommen habe, wusste ich doch nicht, dass das eines Tages erfolgreich sein würde“, sagt sie. „Wir haben das damals für eine Gesangsgage gemacht – und weil es uns Spaß gebracht hat.“ Und ihre jetzigen Konzerte seien im Grunde nur eine Fortführung dessen, was sie immer schon gemacht habe: „Für Menschen singen, mit Menschen singen und andere Menschen dazu bringen, dass sie mit mir gemeinsam singen.“ Dass ihre Fans dafür zu Tausenden in ihre Konzerte strömen und 25 Euro für ein Ticket ausgeben – das ändere nichts an diesem einfachen Grundprinzip.
Das Konzert in Leverkusen ist nach einer guten Stunde zu Ende. Simone Sommerland bedankt sich bei den Eltern und Großeltern – „dafür, dass ihr mit euren Kindern Musik hört und mit ihnen singt“. Sie wirkt nun ganz ernst, es klingt, als wäre es ihre Mission, dafür zu sorgen, dass sie das tun.
Bevor es für die Familien wieder zurückgeht nach Olpe, Krefeld und Mönchengladbach stellen sich viele noch einmal in eine lange Warteschlange, um ein Autogramm von Simone Sommerland zu bekommen – und eine Umarmung fürs Foto. So auch die vierjährige Mona. „Es ist ihr allererstes Konzert“, sagt ihre Mutter. Das Bild von dieser Begegnung komme ins Andenkenalbum. Dort wird es hinter den Fotos von der Taufe und dem letzten Geburtstag eingeklebt. Der erste Wackelzahn, der erste Schultag und die Erstkommunion kommen später.
Der Autor Andreas Fasel kennt viele Lieder aus Sommerlands Repertoire in- und auswendig, weil er sie selbst mit seinen Kindern gesungen hat