Deutschland hat den Blues, die Gesellschaft ist tief gespalten. Der Münchner Blues-Musiker Will Hampel alias Dr. Will glaubt, seit Corona haben die Menschen „kein Gefühl mehr für Zwischentöne“. Der 62-Jährige wünscht sich „mehr Offenheit für gegenteilige Haltungen“.
Deutschland hat den Blues.
Wachstum 2025? Kaum messbar, die Prognose des Instituts der deutschen Wirtschaft liegt bei 0,1 Prozent.
Wirtschaftsmotor Autobranche? Schwer am Stottern, es drohen Werksschließungen und Entlassungswellen auch bei den Zulieferern.
Insolvenzen? Das Jahr 2024 schließt mit einem Rekordstand.
Arbeitslosigkeit? Durch die Wirtschaftsflaute steigt sie im Dezember auf 6,0 Prozent, 170.000 Menschen mehr als zum Ende des Vorjahres sind ohne Arbeit.
Deutschland hat den Blues. Ein Fachmann dafür ist Will Hampel, 62. Der Münchner hat den Blues seit seinem siebten Lebensjahr. Und er lebt damit ziemlich gut. Die Zeitungen seiner Heimatstadt München feiern ihn als den „Blues-Paradiesvogel“. Oder sie befinden schlicht: „Dieser Mann ist Kult.“
Blues und Politik: eine Gemeinsamkeit
Der Kult-Blues-Paradiesvogel hat sich rechts an den Arbeitsplatz in seinem Studio einen Totenkopf gestellt, originalgroß, massiv Kupfer. Es ist das Geschenk eines Künstlers. Der Schädel hat einen Namen. Er heißt „Einstein“. Und er hat einen Job: Er soll tagtäglich auf dem Schreibtisch an die Endlichkeit erinnern.
Die Vergänglichkeit von Plänen hat Will Hampel in der Corona-Pandemie erleben müssen. Gerade wird sein Album „I Want My Money Back“ vom Preis der Deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet, es läuft wunderbar. „Alles hat ausgesehen, als würde es ein richtig gutes Konzertjahr werden“, erinnert sich Hampel. 30 Konzerte sind fest vereinbart, 150 werden letztlich ausfallen.
Ein paar Tage vor dem ersten Auftritt mit dem neuen Album kommt der Lockdown. Deutschland friert ein. Kunst und Kultur versinken in Totenstarre. Und Will Hampel sitzt, zur Untätigkeit verdammt, zu Hause am Schreibtisch. Neben seinem Totenschädel.
Bis dann irgendwann die Idee entsteht, Konzerte zu politischen Demonstrationen zu erklären. Blues und Politik: Dank dieses schrillen Zweiklangs gibt es dann wenigstens ein wenig Einkommen per Sammelhut, den man auf der Straße herumgehen lässt.
Sexualtherapeut: „Wie kann ich helfen?“
Als Künstler nennt sich Hampel Dr. Will. Den Doktortitel hat er sich höchstselbst verliehen. Je nach Laune nennt er sich Sexualtherapeut: „Wie kann ich helfen?“ Oder auch Doktor der Voodoologie. So gehört sich das in der Szene.
Die New Orleans-Größe Dr. John hat ihn beeinflusst, auch die Briten Dr. Feelgood. Dr. Will schreibt Filmmusiken. Er leitet Theaterproduktionen als musikalischer Direktor. Er produziert Musik von Kollegen. Vor allem aber: Er spielt den Blues.
Versaut für ein Leben außerhalb dieser Musik hat ihn sein neun Jahre älterer Bruder Schorsch Hampel. Der hat ihm Schallplatten von Jimi Hendrix aufgelegt. Der Song „Bold As Love“ mit seinem psychedelischen Schluss begleitet Will von da an. Mit elf Jahren darf er in den Proberaum der Band und alle Instrumente durchprobieren. Das Schlagzeug wird seine Leidenschaft. „Wahrscheinlich“, sagt Will Hampel, „weil es am einfachsten war.
Was aus ihm außerhalb der Musik hätte werden können? Er beantwortet die Frage mit einem einzigen Wort: „Nix.“
Blues – obwohl eigentlich alles in Ordnung ist?
Was sagt der Fachmann zum deutschen Blues? „Grundsätzlich beschreibt der Blues ein Gefühl, das einen treffen kann, obwohl eigentlich alles in Ordnung ist. Feeling blue heißt: traurig und sehnsüchtig, ohne einen echten Grund haben zu müssen.“
Ein selbstgeschriebener Lieblingssong heißt „Walking Crippled“. Er fängt an mit einem versauten Urlaub. Und führt mit der zweiten Strophe direkt in die Lebenskrise. Da geht es darum, dass die besten Jahre vorbei sind, ohne sie wirklich genutzt zu haben. Aber es ist ja zu spät, noch etwas Richtiges anzufangen.
Das allerdings findet Will Hampel mit seinen 62 Jahren auch wieder ganz tröstlich. Sein Neuanfang gilt dem nächsten Album, für das sich in seinem Kopf gerade die ersten Fragmente zusammengesellen. Es wird nach „Soirée Macabre“, einer Art Blues-Oper von 2023, wieder etwas ganz Neues werden. „Ich höre schon“, sagt er, „wie es klingen könnte.“
Unser Deutschland: „Die Spaltung ist geblieben“
Die Pandemie war für Dr. Will eine Katastrophe: persönlich und wirtschaftlich. „Ich war“, sagt er, „am Boden zerstört.“ Er selber hat sich davon erholt. Deutschland in seiner Wahrnehmung nicht. „Ich habe immer mehr Menschen getroffen, die feste Überzeugungen hatten und überhaupt kein Gefühl mehr für Zwischentöne. Die Spaltung ist geblieben. Irgendwas von dieser Krankheit haben wir in den Köpfen behalten.“
Attacken auf Minderheiten: „Das ist so schäbig!“
Von der Radikalisierung der Meinungen kommt Will Hampel zum Rechtsruck in der Politik. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich in meinem Leben noch etwas so Krasses erleben muss. Dass wir auf Minderheiten losgehen – auf Behinderte, auf Geflüchtete. Das ist so schäbig.“
Vor allem ärgert sich der Musiker über den Neid in der Gesellschaft und eine Neidkultur, die von Politikern bewusst angefeuert werde, um Menschen gegeneinander auszuspielen: „Da gibt es Futterneid auf genau die, auf die doch wirklich keiner neidisch sein muss. Dabei geht’s uns am Ende doch gut. Wir haben unser Bier und unser Dach über dem Kopf.“
„Ich wünsche mir Politiker, die ehrlich sind“
Zwei Wünsche fallen Will Hampel für unser Land ein. Der eine hat mit dem Wahlkampf zu tun, der Deutschland in diesen Wochen vor der Winterwahl beschäftigt. „Ich wünsche mir mehr Politiker, die ehrlich sind und sagen, dass nicht eine bestimmte Bevölkerungsgruppe daran schuld ist, dass es dir gerade nicht so gut geht.“
Den zweiten beschreibt er mit einem Beispiel aus der Musik. „Ich wünsche mir wieder mehr Offenheit für gegenteilige Haltungen. Wenn einer den Blues nicht mag und lieber auf ein Helene-Fischer-Konzert geht, dann tut er mir sehr leid – aber ich hab‘ doch kein Problem damit.“ Beim Gedanken an Helene Fischer schüttelt sich der Blueser vor Lachen.
Deutschland und der Blues: eine Reinigung?
Überhaupt lacht Will Hampel, der Fachmann fürs Dunkle und Düstere, viel – und er lacht dröhnend. Da ist es gut, dass sein Totenschädel so massiv ist, dass er davon nicht vom Schreibtisch geweht werden kann.
Blues macht nicht depressiv. Blues ist ein Spiel mit dem Elend des Lebens. Wie heißt es im Hank Williams-Klassiker zum Schluss des bisher letzten Dr. Will-Albums: So sehr du dich auch anstrengst, du kommst aus diesem Leben einfach nicht lebend heraus.
„Man kann sich suhlen in der Traurigkeit eines Songs“, sagt Will Hampel, „das ist für mich das Schöne am Blues, dass er fast immer sein Augenzwinkern hat. Das ist nie zu 100 Prozent ernst.“
Vielleicht wäre das der wichtigste Rat für Deutschland: Du kannst dich schon mal runterziehen lassen. Aber nur um gereinigt und mit neuer Kraft und Zuversicht wieder aufzutauchen.